Wie das “WIR” entsteht und sich festigt

19.05.2018

Wir veröffentlichen den wertvollen Beitrag von Remi und Brigitte von der Gruppe „Court Jus“ in Embrun zum Thema VERTRAUEN zwischen Landwirten und Verbrauchern, das während des Festes „Altra Velocità“ vertieft wurde.

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Wie das “WIR” entsteht und sich festigt

Das «WIR» - Erzeuger / Verbraucher - ist das Ergebnis eines Prozesses, der zu einer Gemeinschaft führt, die gewisse Standpunkte teilen. Die Verbraucher wählen Produkte, weil sie gut sind, zu einem fairen Preis und die unter den bestmöglichen sozialen und ökologischen Bedingungen angebaut werden. Der Vorteil, den die Landwirte daraus ziehen, erlaubt es ihnen, in Würde zu leben und nicht aus Gewinnen Kapital zu schlagen. Nicht einmal die Einkaufsgemeinschaften, die diese Produkte konsumieren, ziehen einen finanziellen Gewinn daraus. Zusammen schaffen sie eine andere Form der Wirtschaft, die auf Solidarität und nicht auf Egoismus beruht.
Mit diesem "WIR" schaffen sie durch das "GEMEINSAME AGIEREN" ein gemeinsames Gut, um Denkweisen zu verändern.

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Wie entsteht dieser Prozess?

  • Basis ist ein gemeinsames Interesse: Die Landwirte leben von ihrer Ernte, die Verbraucher suchen nach Lebensmitteln… Dies kann einen „kommerziellen Austausch“ in Gang setzen.

  • Die ersten Begegnungen finden oft über bestehende Netzwerke statt: Mundpropaganda, Informationen im Internet oder anderen Kommunikationssystemen. 

  • Die ersten Schritte des Vertrauens bewegen sich subjektiv zwischen Menschen:

    • Formelle Treffen: Meinungsaustausch über das Projekt der kommerziellen Beziehung.

    • Informelle Treffen: Austausch über andere Themen und Erlebnisse (Geselligkeit, Reisen, …)

  • Es wird eine erste Basis gemeinsamer Werte identifiziert, die es uns ermöglicht, vorwärts zu kommen.

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Wie sprießt Vertrauen?

  • Aus der Ferne, per Telefon oder E-Mail oder, viel besser, "Auge in Auge", werden gemeinsame Werte in Bezug auf das kommerzielle Tauschprojekt definiert. Dies geschieht, wenn sich herausstellt, dass auf beiden Seiten das Streben nach solidarischer Teilhabe und nicht der wirtschaftliche Vorteil als Selbstzweck im Vordergrund steht.

  • Der Landwirt zeigt Vertrauen, indem er vor der Lieferung keine Anzahlung verlangt, oder diese, wenn überhaupt, von der Einkaufsgemeinschaft vorgeschlagen wird.

  • Der Landwirt zögert nicht, Produkte, die von der Einkaufsgemeinschaft nicht geschätzt werden, zu ersetzen oder zu erstatten.

  • Auf beiden Seiten wird nicht an Zeit für gemeinsame Gespräche gespart, auch wenn die Themen über das gemeinsame Projekt hinausgehen. 

  • Die Bio-Zertifizierung ist nur eine Komponente. In der Vertrauensbeziehung verliert das Produkt die Anonymität der Ware, es wird mit menschlichen Beziehungen angereichert, so dass es nicht durch ein anderes Produkt ersetzt werden kann, auch wenn dieses qualitativ gleichwertig wäre. Allein mit der Zertifizierung bleibt ein Produkt eine anonyme Ware ohne Garantien für die sozialen Bedingungen seiner Herstellung.

  • Preistransparenz: Wir wissen, dass die Preise nicht völlig unabhängig von denen des Marktes sein können, aber wenn der Erzeuger die Preisbildung und den höheren Preis erklärt, ist dies ein wichtiges Element des Vertrauens.

  • Bei der Erörterung von Preisen oder zusätzlichen Kosten (Verpackung, Transport usw.) werden die "Verhandlungen" umgekehrt (es wird ein Preis vorgeschlagen, der für den anderen besser ist als für sich selbst).

  • Die Qualität der Produkte spricht für sich selbst, sie ist ein Beweis für die Leidenschaft des Erzeugers für seine Arbeit und den Respekt für den Verbraucher.

  • Bei jeder Lieferung besprechen wir Änderungen oder Transportprobleme, um die Schwierigkeiten gemeinsam zu lösen. Wir erkennen das Recht des anderen auf Fehler an und akzeptieren Risiken (Transport, Wetter ...).

  • Die von beiden Parteien geteilte Strenge in der Organisation vermeidet so weit wie möglich das Risiko und ist notwendig, um das Vertrauen zu festigen.

  • Die Erzeuger besuchen die Einkaufsgruppen auf formelle (durch Teilnahme an einer Mitgliederversammlung, einem Meeting) und gesellige Weise (Gastfreundschaft der Mitglieder der Gruppe, Spaziergang...).

  • Die Verbraucher besuchen die Betriebe & Höfe der Erzeuger und versuchen, die Dynamik des Anbaus & der Herstellung zu verstehen. Der Erzeuger akzeptiert dies ohne Zögern, ohne sich "überwacht" zu fühlen und versteht die Bedeutung und das Vergnügen, seine Arbeit zu erklären - es ist ein Austausch. Einige Mitglieder der Einkaufsgruppe können auch an internen Sitzungen der Erzeugergemeinschaft teilnehmen und sich des Geistes bewusstwerden, der die Gruppe antreibt. Diese Besuche stärken das Klima des Vertrauens, wenn die Erzeuger Besucher in ihren Häusern empfangen und eine bescheidene Unterkunft bieten. 

  • Daher ist es notwendig, die Idee des Marketings, die oft illusorisch ist, aufzugeben und zu einem echten Dialog auf Augenhöhe überzugehen.

Es ist eine Vertrauenskette, die sich nach und nach festigt und von den "Pionieren" auf andere übertragen wird, sowohl in der Gruppe der Erzeuger als auch in der Gruppe der Verbraucher.

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Die Vertrauenskette wird innerhalb beider Gruppen ständig gestärkt:

  • Die besser informierten Mitglieder der beiden Gruppen geben häufig ihre Informationen weiter und beantworten die Fragen aller Mitglieder. Sie erzählen auf verschiedene Weise von ihren Reisen und Begegnungen (Fotos, Informationsveranstaltungen, Websites usw.).

  • Durch Treffen zwischen "Kernmitgliedern" und "Vertretern" der anderen Gruppe (z.B. nehmen einige Hersteller an einer Versammlung einer Gruppe teil oder umgekehrt)

  • Keine der beiden Seiten zögert zu fragen oder Nachweise zu liefern, wenn festgestellt wird, dass es Zweifel bei den Mitgliedern gibt (Bio-Zertifizierung, verwendete Produkte im Anbau oder bei der Herstellung etc.). 

  • Es muss verstanden werden, dass Vertrauen nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, sondern gepflegt werden muss, und im Falle der Hühner hat sich die Kommunikationsarbeit (regelmäßige Veröffentlichung im Internet) als wirklich nützlich erwiesen.

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Wann kann man von absolutem Vertrauen sprechen?

Wenn wir sagen können, dass alle Schritte, um diesen kommerziellen Austausch zum Funktionieren zu bringen, auf der einen und der anderen Seite ZUSAMMEN in einem gemeinsamen Projekt durchgeführt werden, das im Interesse aller liegt. Genau in diesem Moment gibt es eine echte Gegenseitigkeit. Das WIR wurde konsolidiert und wir können an gemeinsame Projekte denken, die weit über den rein kommerziellen Austausch hinausgehen.

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Ko-Produktionen sind das Ergebnis von Vertrauen

Die Ko-Produktion soll das System "Angebot/Nachfrage" abschaffen, in dem das "jeder für sich" vorherrscht, um es durch eine Zusammenarbeit über "Bedürfnisse/Ressourcen" zu ersetzen.  Wenn das Vertrauen einmal aufgebaut ist, können wir eine Zusammenarbeit organisieren und gemeinsam Projekte durchführen. Zuversichtliche Verbraucher sind bereit, "die Bank zu ersetzen", indem sie Geld vorschießen, während die Landwirte bereit sind, sich zu verpflichten, weil sie Vertrauen in die Einkaufsgruppe haben, die ihre Produkte beziehen.
So geschehen bei der Ko-Produktion von Avocados zwischen den "Glücklichen Hühnern" und den französischen Einkaufsgemeinschaften: Die Landwirte hatten einen großen Überfluss an Orangen, aber nur eine geringe Menge von anderen ebenso beliebten Produkten, wie z.B. Avocados. Dies führte zu einem Vertrag über die Ko-Produktion von Avocados, der 2017 zwischen dem Konsortium und 12 französischen Gruppen unterzeichnet wurde.
Franzosen, die Sizilianern eine beträchtliche Summe Geld leihen: schön und überhaupt nicht vorhersehbar! Und was für ein außerordentlicher Vertrauensbeweis!

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Anhang

Hier eine Definition der "Solidarwirtschaft" des französischen ES-Labors, die unseren Überlegungen nahe zu kommen scheint:
"Ein kurze wirtschaftliche & solidarische Lieferkette ist eine Form des wirtschaftlichen Austauschs, die die soziale Bindung, die Zusammenarbeit, die Transparenz und die Fairness zwischen den Protagonisten des Austauschs fördert."
 

Rémi Kuentz und Brigitte Pavy. Pontis 18. April 2018

Dieser Text ist ein Beitrag zur Fest 3 "dell’altra velocità", das für Ende Juni 2018 in Avigliana geplant ist. Diese Überlegungen sind das Ergebnis einer siebenjährigen Praxis des Handelsaustauschs zwischen Court Jus und den Glücklichen Hühnern.